07.11.2025 0 Kommentare
Erinnerung gelöscht
Erinnerung gelöscht
# Zum Weiterdenken

Erinnerung gelöscht
Von Pfarrer Martin Jung

Ich blättere gerne in Stadtchroniken, in Büchern über die Geschichte Wolfhagens und seiner Bürger. Sie erinnern an das Leben der Menschen von damals, erzählen manchmal Anekdoten und zeigen Bilder aus vergangenen Zeiten. Neulich hatte ich ein Buch von 1929 in der Hand. Und wieder gab es viel zu entdecken: Kapitel mit geschichtlichen Rückblicken, Darstellungen zu den Kirchen wie öffentlich relevanten Gebäuden und Beschreibungen des Zusammenlebens in unserer Stadt.
Zum jüdischen Leben im Leben in Wolfhagen fand ich kein Kapitel – nur zwei Bilder der Synagoge in der Mittelstraße und im Anhang eine Liste aller jüdischen Familiennamen. Ich fand das schade und auch ein wenig merkwürdig. Es gab doch jüdisches Leben bei uns und alle wussten das. Kinder lernten in der jüdischen Schule in der Gerichtsstraße und jüdische Handwerkmeister machten Schuhe wie Schlosserarbeiten. In der Synagoge wurden bei Gottesdienste gebetet und gesungen, Paare gaben sich das Ja-Wort und Jugendliche feierten ihre jüdischen Konfirmation, zu der selbstverständlich auch Nicht-Juden eingeladen waren. Warum wird so wenig von diesem Leben in dem Buch aus dem Ende der zwanziger Jahre erzählt? Wurde es vergessen? Ich weiß es nicht.
Aber nur wenige Jahre später sollte jede Erinnerung ausgelöscht werden. Als rund um den 9. November 1938 überall in Deutschland und auch in Wolfhagen die Synagogen brannten, begann die Auslöschung jüdischen Lebens. Erinnert euch! Gedenkt! Blättere ich durch die Bibel, dann lese ich immer wieder diesen Aufruf. Denn in der Erinnerung zeigt uns Gott das Böse und Gute in uns. Und so lerne ich etwas für das Leben.
Marin Jung ist Pfarrer im evangelischen Kirchspiel Wolfhagen für die Kirchengemeinde Wolfhagen.
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